Über Lose Enden


 


Im Juni 2022 verstarb meine Mutter mit 96 Jahren.
Bei ihrer Beerdigung dachte ich noch mit keiner Faser daran,
ich könnte über diesen Tag ein Buch schreiben.
Aber am folgenden Morgen war auf einmal der Gedanke in mir:
Von diesem Tag möchte ich so wenig wie möglich vergessen.
Und ich setzte mich die nächsten zwei Tage hin und skizzierte die Stunden
von der morgendlichen Abfahrt aus der Stadt bis zur Heimkehr am Abend.
Der Tag war voller Wendungen und Überraschungen.
Es war ein Tag voller Leben.
Ich sah ihn vor mir, wie man in der Wüste die Silhouette einer Stadt sieht.
Aber anders als bei einer Fata Morgana
bestand sie aus Häusern, Türmen, Brücken, Straßen,
die nicht verschwanden, als ich auf sie zuging.
Mir blieb gar nichts anderes übrig, als darüber zu schreiben.
Acht Monate arbeitete ich daran.
Und wundersamerweise erschien das Buch mit dem Ende des Trauerjahres.
Einen Monat später überraschte mich der Brief eines Anwalts.
Zwei meiner Geschwister und eine Schwägerin
fühlten ihre Persönlichkeitsrechte verletzt.
Der Verlag zog daraufhin das Buch sofort aus dem Verkehr
und allein die Androhung einer Klage reichte,
dass er eine sogenannte „Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung“ abgab,
die so weitgreifend war,
dass auch diese hier vorliegende Überarbeitung
im Verlag nicht mehr zu machen war.
Ich anonymisierte das Manuskript weitgehend und änderte ein paar Stellen,
bei denen ich mir vorstellen konnte,
sie könnten die Persönlichkeitsrechte Anderer berühren.
Indem das Buch vom Markt ist, gibt es im Moment keinen „Fall“ mehr.
Damit ist die Angelegenheit zwar (für die Gegenseite) geregelt,
aber natürlich (für mich) nicht vom Tisch.
Wäre ich – auch kraft der Einschätzungen meines Anwalts –
nicht der Überzeugung, dass dieses Manuskript frei
jeder Verletzung der Rechte Dritter ist, würde ich diesen Schritt
der Veröffentlichung über diese Internetseite nicht wagen.
Den Text einfach in der Schublade verschwinden zu lassen
und auf bessere Zeiten zu hoffen,
ist für mich keine Option.
Nie gab es bessere Zeiten für die Veröffentlichung eines solchen Manuskripts.
Im Grundgesetz verankert sind die Grundrechte
auf freie Meinungsäußerung und Kunstfreiheit
und wir können uns glücklich schätzen,
befinden wir uns in Deutschland – sieht man sich in der Welt um –
diesbezüglich doch – fast schon – auf einer paradiesischen Insel.
Oft hört man sagen, man müsse für diese Privilegien kämpfen
oder sie verteidigen.
Ich sage lieber: Man muss sie mit Leben erfüllen.
Würde ich das Manuskript zurückziehen,
käme das für mich einem Gesichtsverlust gleich.
Der Selbstzensur öffnete ich Tür und Tor
und hätte nach meinem Empfinden das Recht zu schreiben eingebüßt.
Hier also die Einladung zum Lesen, Herunterladen, Weitergeben
von „Lose Enden“.
Jedes Kunstwerk, jedes geistige Eigentum lebt ja von seiner Rezeption –
und durch verständige Menschen,
die es aufnehmen wie einen Gast in der Herberge.
Und wer weiß, vielleicht ist „Lose Enden“
doch eines Tages wieder vergönnt,
zwischen zwei Buchdeckeln zu erscheinen.
Kein schöneres Ding auf der Welt als ein Buch!

Manfred Kern, im Frühling 2024